10.1.17
Fraternité! Schöne Augenblicke in der europäischen Geschichte
Ein neues Buch von Bernd Jürgen Warneken

10.1.17 Fraternité! Schöne Augenblicke in der europäischen Geschichte Ein neues Buch von Bernd Jürgen Warneken »Man sah alte Männer, die in den Straßen knieten und Gott priesen, dass sie in ihrem Leben Zeugen dieses glücklichen Augenblicks werden durften«, berichtet die die britische Schriftstellerin Helen Maria Williams über das Pariser Föderationsfest von 1790.… Weiterlesen → »Denkwürdiges Datum, welches das herrlichste Stadium in der Geschichte des Proletariats bezeichnet, für das sich die Arbeiter des unteren Universums vereint haben«, jubelt die Zeitschrift »El Obrero« in Santiago de Chile 1890 nach der ersten dortigen Arbeitermaifeier. »Dies ist der schönste Tag meines Lebens«, sagt 1973 ein älterer Metallarbeiter der Firma Pierburg in Neuss, als sich die deutschen Facharbeiter nach vier Tagen den streikenden ausländischen Arbeiterinnen anschließen. »Heute halten wir alle zusammen, das habe ich noch nie in meinem Leben erlebt!«
Die schönen Augenblicke, die hier von Zeitzeugen gefeiert werden, sind Augenblicke der Verbrüderung oder, was nicht nur im letzten Fall richtiger ist, der Verschwisterung. Der französischen Föderationsbewegung der Jahre 1789 und 1790, die im Marsfeldfest des 14. Juli 1790 gipfelt, ist es um die nationale Fraternité, um eine Volk, König, Kirche einschließende Einigung auf die neue revolutionäre Verfassung zu tun. Der erste Arbeitermai von 1890 ist der erste Arbeitstag der 1889 gegründeten Zweiten Sozialistischen Internationale, des ersten auf eine breite gewerkschaftliche und politische Massenbasis gestützten Versuchs der Arbeiterbewegung, eine europaweite, im Ansatz bereits weltweite Gegenmacht gegen Kapitalismus und Krieg zu bilden. Die Solidarisierung von deutschen, griechischen und türkischen Belegschaftsmitgliedern im Metallbetrieb Pierburg-Neuss, vergleichsweise kleinformatig, ist ein Ereignisausschnitt aus der Welle »wilder Streiks«, mit denen ausländische, vor allem türkische ArbeiterInnen in überraschender Breite und Entschlossenheit dieselben Lohn- und Arbeitsbedingungen durchsetzen wollten, wie sie die deutschen Belegschaften hatten. Und der hier begonnene Kampf um Gleichstellung in der Arbeitswelt bildet den Anfang der Bemühung um gleiche Migrantenrechte auf allen Lebensebenen. Ein Beispiel für diese nächste Etappe sind die ab den 1990er-Jahren in Deutschland errichteten repräsentativen Moscheen, deren Geschichte dieses Buch abschließt.
Die drei Augenblicke der Verschwisterung stehen jeweils für den Anfang eines großen emanzipatorischen Projekts: für die nationale Einigung auf der Grundlage bürgerlicher Freiheit und Gleichheit, für die Überwindung nationaler Klassensolidarität durch internationale Arbeiter- und letztlich Völkersolidarität und für die Integration, besser: die soziale Anerkennung und politische Gleichstellung von Zuwanderern in der heutigen Einwanderungsgesellschaft.
Das alles und noch viel mehr findet sich in dem neuesten Buch von Bernd Jürgen Warneken. Es ist meines Erachtens eines seiner bislang besten. (Das nächste ist bereits in Arbeit.) Er verbindet empirische Nahsicht und Empathie mit weiträumigem theoretischem Überblick, Akribie im Detail, genaueste Aufbereitung und Analyse zahlreicher Quellen mit Souveränität und Eleganz in der Darstellung des Ganzen.
Bernd Jürgen Warneken: Fraternité! Schöne Augenblicke in der europäischen Geschichte, Wien, Köln und Weimar 2015. Böhlau-Verlag. 341 S., 30 Abbildungen
Abbildung 2
Als schöner, gar schönster Augenblick erlebte Ereignisse können sich – Faust II lässt grüßen – als Chimären herausstellen: als reiner Betrug, als naive Illusion oder als zwar nicht aus der Luft gegriffene, aber sich schließlich doch in Luft auflösende Hoffnung. Wohl deshalb ist die Scheu davor, einst als Aufbruch in eine Zukunft der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gefeierte Augenblicke mit Empathie, wenn nicht Sympathie in Erinnerung zu rufen, gerade bei AutorInnen, die grundstürzende gesellschaftliche Veränderungen für nötig halten, ungemein groß.
[…]
Die nationale Fraternité von 1790 zerbrach […] alsbald. Auch die anderen in diesem Buch geschilderten Augenblicke der Einigkeit oder zumindest Einigung brachten, wie man weiß, nicht den großen Umbruch, den sich viele Beteiligte von ihnen versprochen hatten. Die europäische Arbeiterbewegung wird 1914 das Obsiegen der nationalen über die internationale Solidarität erleben: Dem Julierlebnis von 1889 und dem Maierlebnis von 1890 folgt das Augusterlebnis von 1914. Und die in den »wilden Streiks« von 1973 und in den Moscheebauprojekten seit den 1990ern eingeforderte soziale Anerkennung und rechtliche Gleichstellung von Einwanderern, zumal wenn sie türkischer Abstammung und muslimischen Glaubens sind, können nicht nur für Deutschland – auf das sich der dritte Teil dieses Buchs konzentriert – bestenfalls als unabgeschlossen gelten. (S. 9)
Abbildung 3
Rembrandt Harmensz. van Rijn 1606 – 1669
Simeon’s Song of Praise (1669)
oil on canvas (99 × 80 cm) — 1669 Nationalmuseum, Stockholm
http://www.artbible.info/art/large/598.html
Der Blick zurück, im Zorn oder nicht, auf „schöne Augenblicke“ mit nicht verwirklichten Möglichkeiten, die oft nur Hoffnungen oder gar Illusionen waren, stößt nicht selten auch auf unschöne Augenblicke. Geschichte ist nicht nur eine Folge von Katastrophen, aber auch kein teleologischer Fortschritt.
Kant soll
bei der Nachricht von der Französischen Revolution gesagt haben […]:
»Herr, laß deinen Diener in Frieden scheiden, nachdem ich den Tag des Heils gesehen habe«
Kant hat hier eine messianische Formulierung aus dem Lukas-Evangelium (Luk. 2, 29-32) der Form nach übernommen, dem Inhalt nach jedoch säkularisiert. Es handelt sich um das Canticum Simeonis, der Lobgesang Simeons, als Nunc dimittis – der Textbeginn der lateinischen Bibel-Übersetzung – oft vertont, etwa von H. Schütz und J. S. Bach.
29 HERR, nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; 30 denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, 31 welchen du bereitest hast vor allen Völkern, 32 ein Licht, zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volkes Israel. (Jesaja 49.6)
(Luther 1912, mit Apokryphen)
29 HErr / nu lessestu deinen Diener im Friede faren Das ist / Nu wil ich frölich sterben. / wie du gesagt hast. 30 DEnn meine Augen haben deinen Heiland gesehen. 31 Welchen du bereitet hast / Fur allen Völckern. 32 Ein Liecht zu erleuchten die Heiden / Vnd zum Preis deines volcks Jsrael. (Jesaja 49.6)
(Luther 1545 letzter Hand)
http://www.bibel-online.net/
Abbildung 4
Mit Kriegsbeginn 1914 war die davor oft noch zögerliche Mehrheit der Parteiführung der SPD und eine überwältigende Mehrheit der Reichstagsfraktion von Chauvinismus und Opportunismus überwältigt. So stimmte die SPD-Fraktion im Reichstag untertänigst nicht nur für Kriegskredite, sondern verkündete überdies sogar noch eine „Burgfriedenspolitik“ zwischen den von ihr damit kaum mehr Vertretenen Beherrschten und den Herrschenden. B.J. Warneken hält einerseits zurecht massenhaften Widerstand in Form eines Generalstreiks, wie er ursprünglich von der II. Internationale gegen den Krieg vorgesehen war, nach der Kriegserklärung und der Ausrufung des Belagerungszustands für unmöglich; die genannte Unterwerfung anderseits für unnötig.
Das folgende erneute Anknüpfen an den Lobgesang Simeons ist eine unwissentliche Travestie:
So schreibt der SPD-Abgeordnete Eduard David am Abend des 4. August [1914] in sein Tagebuch: »Wenn ich nun auch nichts mehr tun könnte, so könnte ich doch mit dem Bewußtsein sterben, dem deutschen Volke und der Sozialdemokratie einen großen Dienst erwiesen zu haben.« Andere Todesgedanken haben in diesem Augenblick Clara Zetkin und Rosa Luxemburg: Sie denken daran, sich umzubringen. (S. 118)
Dennoch, es gab in diesem Weltkrieg „Die Weihnachtsinternationale der Soldaten“ und den zeitweiligen „Waffenstillstand von unten“ (S. 145-197) – vor allem lokal eng begrenzte gemeinsame Feiern, kurz- oder längerdauernde Vereinbarungen, nicht aufeinander zu schießen und ähnliches. Die militärischen Führungen auf allen Seiten der Fronten reagieren mit Verboten bis hin zu Gewaltmaßnahmen auf solche Friedensaktivitäten der Unteren. Die rechtssozialdemokratischen Führungen und Medien reagieren mit Unverständnis oder Unterdrückung der Informationen über diese Aktionen. Einen schwer überbietbaren Gipfelpunkt diese Antifriedens-Aktivitäten erreicht die folgende Argumentation in der sozialdemokratischen Mainzer »Volkszeitung« Ende 1914:
Es kämpft sich schwerer, wenn sich einmal Fäden kameradschaftlicher Vertraulichkeit zwischen den feindlichen Schützengräben herüber und hinüber gesponnen haben, es tritt dadurch leicht ein Zustand des Geistes- und Gefühlslebens ein, der dem Zweck der Kriegführung, der gegenseitigen schonungslosen Vernichtung, hinderlich ist. Dagegen kann man einwenden, daß dieses Hindernis auf beiden Seiten gleich stark ist, das Kräfteverhältnis also nicht geändert wird. Aber man denke sich einmal die begonnene Entwicklung bis ins Unendliche fortgesetzt: die Folge wäre, daß man überhaupt keinen Krieg führen könnte! Es ist also nur logisch, daß diejenigen, die den Krieg führen wollen, gleich den Anfängen wehren und jede kameradschaftliche Annäherung an den Feind verbieten.
Wir spüren förmlich das Entsetzen eines der Befürworter imperialer Kriege, dass deren Führung unter anderem durch Empathie mit den jeweiligen Gegnern unmöglich werden könnte. Ein nachträglicher Nachhall dieser Haltung ist das Ja zu diesen Kriegen seit 1990 unter dem Motto „Nie wieder Krieg … – ohne uns!“
Ein Nachhall der Fraternisierungen im 1. Weltkrieg ist 1926 Kurt Tucholskys Chanson Der Graben. Hanns Eisler hat den Chanson gleich in zwei Fassungen vertont – s. Lieder nach Texten von Kurt Tucholsky, Gesang und Klavier sowie kleines Orchester, Nr. 37 und 38.
[…]
In die Gräben schickten euch die Junker,
Staatswahn und der Fabrikantenneid.
Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben,
für das Grab, Kameraden, für den Graben!
Werft die Fahnen fort!
Die Militärkapellen spielen auf zu euerm Todestanz.
Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen –
das ist dann der Dank des Vaterlands.
Denkt an Todesröcheln und Gestöhne.
Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne,
schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben.
Wollt ihr denen nicht die Hände geben?
Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben
übern Graben, Leute, übern Graben -!
Der Schluss von Eislers Klavierfassung:
Abbildung 5
B.J. Warneken schreibt im Vorwort abschließend:
Die Darstellung und, so meine ich, auch das Dargestellte verweigern sich […] der Alternative einer tragischen Geschichtsauffassung, in der Momente des zwischenmenschlichen Gelingens nur als kurze Unterbrechung einer kontinuierlichen Katastrophe aufgefasst werden, und eines Fortschrittsglaubens, demzufolge transitorisch bleibende oder gar scheiternde Verbrüderungen in emanzipatorischer Absicht als Antizipation, als Vor-Schein einer verbürgerten oder auch nur wahrscheinlichen späteren Geschichtsstufe gedeutet werden. Gezeigt werden soll vielmehr etwas Drittes: dass die geschilderten Augenblicke intersozialen Glücks tatsächlich Ereignisse in dem emphatischen Sinn waren, dass sie Strukturen, Praxen und Diskurse veränderten, dass die Welt danach nicht mehr dieselbe war oder zumindest neu gesehen wurde. Die inneren Widersprüche und Begrenzungen der drei geschilderten Aufbrüche und auch die auf sie folgenden Rückschläge nicht verkleinernd, lenkt die Darstellung die Aufmerksamkeit auf deren historische Produktivität: auf die Ermutigung hier und das Umdenken dort, das sie auslösten, auf kreative Erweiterungen, welche eigentlich nur für eine begrenzte Klientel gedachte Mitwirkungsmöglichkeiten erfuhren, auf lebensweltliche Veränderungen, die zwar nicht erfüllten, was versprochen oder erhofft wurde, aber deshalb doch einen greifbaren, erlebbaren Fortschritt darstellten. Und sie vertraut im Übrigen auf die Möglichkeit, dass auch gescheiterte oder unvollkommen realisierte Projekte, sofern man sich ihrer erinnert, später wieder aufgegriffen und unter günstigeren Bedingungen realisiert werden können.
[…]
In dem Versuch, schöne Augenblicke der Sozialgeschichte vor ihren Verächtern zu retten, drückt sich nicht nur eine altersbedingte Disposition des Verfassers aus, der nach dem persönlichen Miterleben und der wissenschaftlichen Behandlung vieler gesellschaftspolitischer Enttäuschungen dem Prinzip Hoffnung das letzte Wort lassen will. Dieser Versuch knüpft auch an einige jüngere Beiträge zur Politik- und Sozialgeschichte an, die einer Darstellung der neuesten Geschichte als einer Aneinanderkettung zwischenmenschlicher Katastrophen und einem dementsprechend dunkelgefärbten Menschenbild zumindest ein »Ja, aber« entgegensetzen wollen. (S. 10)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7
1 Das Urfest der Fraternité . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13
»Ein Blitz der Ewigkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15
Crescendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21
Staatsfeier, Volksfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .38
Das Werben um die Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .47
»Der Tag war fruchtbar und schön« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .67
Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .71
2 Tage der Internationale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .75
Der schönste Tag der Arbeiterbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . .77
Fantaisies Parisiennes: Über die Arbeiterverbrüderung zur Völkerverbrüderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .79
Die Trias von 1889: Weltausstellung, Republikfest, Arbeiterkongress 79
Der Umgang mit Verschiedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .99
Die größte Antikriegsbewegung vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . .110
Zwei Augusterlebnisse. Die deutsche Sozialdemokratie zwischen nationaler und internationaler Solidarität . . . . . 115 August 1914: Bekämpfte, geduldete, gewollte Entbrüderung . . . . . 115
Der Tag von Echterdingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .124
Geistesakrobatik 1908 und 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Die Weihnachtsinternationale der Soldaten . . . . . . . . . . . . . . .145
Soziale Triebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1456
»Soldiers’ Truce« – Waffenstillstand von unten . . . . . . . . . . . . .152
Veteranen aller Länder! Ein Nachkriegsecho . . . . . . . . . . . . . . .190
3 Wendepunkte der Immigrationsgeschichte . . . . . . . . . .197
Die Rebellion der Gastarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .199
Die endliche Langmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .199
Ein Desaster und ein Durchbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .204
Gastkollegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .218
Plötzlich wird es langsam besser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .225
Ein Fuß in der Tür . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .235
Moscheebau in Deutschland: Konflikt als Kontakt . . . . . . . . . . . .237
Die Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .242
Eskalation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .246
Moderation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .251
Notabene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .268
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .270
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .312
Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .334
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336-341
So z.B. S. 94:
Wir befinden uns in der »Zeit eines wunderbaren Überganges (…), welcher der Verwirklichung des großen Zieles, auf das in der Tat die ganze Weltgeschichte gerichtet ist – der Herstellung der Einheit des Menschengeschlechtes –, rasch zustrebt«.
Dem dient »die gedeihliche Beförderung aller Branchen der menschlichen Industrie und die Befestigung der Bande des Friedens und der Freundschaft unter allen Nationen der Erde«.
Die Rede ist von schon Vergangenem, von der Weltausstellung 1851 in London. Die wiederum sollte eben besagter Beförderung und damit dem besagten Endzweck dienen. Der diese großen Worte gelassen aussprach, war Prince Albert, Vorsitzender der Royal Commission, welche die Ausstellung organisierte.
Die Übersetzung habe ich leicht modernisiert, wie es ja auch bei Bibeltexten gebräuchlich ist. Bei B.J. Warneken heißt es in der Original-Version:
»Zeit eines wunderbaren Ueberganges […], welcher der Verwirklichung des großen Zieles, auf das in der That die ganze Weltgeschichte gerichtet ist – der Darstellung der Einheit des Menschengeschlechtes –, rasch zustrebt«, und [Prince Albert] proklamierte als Ziel der World Fair »die gedeihliche Beförderung aller Zweige des menschlichen Fleißes und die Befestigung der Bande des Friedens und der Freundschaft unter allen Nationen der Erde«.
Die Formulierung von diesem Ziel der „ganzen Weltgeschichte“ ist großartig, ein ‚schöner Gedanke‘ und ‚schöner Satz‘ in Analogie zum „schönen Augenblick“, trotz der Schranken und Grenzen, die ihr damals wie heute gesetzt sind – und von „rasch“ kann schon garkeine Rede sein.
Der Gedanke und partiell auch die entsprechende Praxis leben aber weiter, auch nach dem Übergang von der „Marktwirtschaft“ der „freien Konkurrenz“ zu der der Monopole.
Dem Selbstverständnis nach gehörten
Völkerverständigung und Völkervereinigung […] nach wie vor zu den Essentials der Ausstellungen. Das gilt nicht zuletzt für 1889, wo der französische Staatspräsident Carnot sich überzeugt gibt, dass diese »großartigen Feste der Arbeit (…) die Zeit immer näher bringen, wo die Einkünfte der Völker aus dem Ertrage ihrer Arbeit nur noch Werken des Friedens gewidmet sein werden«. (S. 95)
Solange freilich der Ertrag der Arbeit unter den Bedingungen der „Marktwirtschaft“ in notwendige und Mehrarbeit gespalten und asymmetrisch angeeignet wird, wird diese Zeit noch fern bleiben.
Schon damals aber bildet sich ein Bewusstsein für das heraus, was heute „global“ heißt. Auf der Weltausstellung 1889 in Paris geschieht das auf beiden Seiten der Frontlinie zwischen Lohnarbeit und Kapital.
Auf den zahlreichen internationalen Kongressen, die zum Ausstellungsprogramm gehören, gibt es durchaus Kräfte, die solche Proklamationen beim Wort zu nehmen und daran anzuknüpfen suchen. Das gilt insbesondere für den vom 23. bis 27. Juni in Paris tagenden »International Peace Congress«, das erste größere internationale Treffen der bürgerlichen Friedensbewegung seit 1853, auf dem die Einrichtung eines internationalen Schiedsgerichtshofs gefordert wird (wie man ihn dann, allerdings erst zwei Weltkriege später, in Den Haag einrichtet). In seiner Eröffnungsrede rekurriert der Tagungspräsident Frédéric Passy auf die gleichzeitige Weltausstellung, die er »nothing else than a great Pacific Congress« nennt: »This manifestation of the unity of labour, amid the struggle for existence, is a symbol of the moral unity of the human race. The Exhibition shows the fraternity of things; the Congress declares the fraternity of man.«
Zum einen findet hier also ein Vertreter des bürgerlichen Pazifismus einen außerordentlich ‚schönen Gedanken‘ und eine ‚schöne Formulierung‘, und zwar gleich gedoppelt. So erscheint zum einen die „Einheit der (Lohn-)Arbeit“ als „Symbol der Einheit der menschlichen Rasse“. Es klingt fast, wenn auch nicht ganz so, als sei es so gemeint, dass die sozialen Hauptträger der Arbeit, die damals noch „Proletariat“ hießen, als Klasse die Tendenz zur Aufhebung in die Menschheit tragen und zu dieser Aufhebung beitragen würden. Zum andern denkt er Ökonomie und Politik zusammen und setzt die Dimension der Produktivkräfte in Parallele zu der der Produktionsverhältnisse als „Brüderlichkeit der Dinge“ und „Brüderlichkeit der Menschen“.
Sozial differenziert und historisch konkreter abgestuft wird zur gleichen Zeit die Tendenz zur humanen Globalität auf der anderen Seite.
Auf dem marxistischen Arbeiterkongress, der keine drei Wochen später beginnt, bezieht sich niemand auf den Kongress der bürgerlichen Pazifisten. Die Maxime heißt hier nicht Menschheitsverbrüderung, sondern Arbeitersolidarität. Doch hinter dem Nahziel, die sozialistische Bewegung international zu koordinieren, taucht auch hier das Fernziel der Völkerverbrüderung, ja der Völkervereinigung auf. »Das Proletariat«, sagt Lafargue in seiner Eröffnungsrede, »wird durch Aufhebung der Klassengegensätze beenden, was 1789 und 1793 begonnen ward. Das Proletariat legt den Grundstein zur großen Liga des Friedens und der Freiheit, zur Liga der Vereinigten Staaten der ganzen Welt.« Und Edouard Vaillant schließt seine Begrüßungsrede mit dem Ausruf: »Hoch die sociale internationale Republik!«
Wilhelm Liebknecht nimmt die Parole am Ende des Kongresses bei einem »Verbrüderungs-Bankett« wieder auf und toastet nicht nur »auf die Verbrüderung der Völker durch den Sozialismus«, sondern auch »auf die Vereinigten Staaten der Welt«. […]
Doch so weit [1889] die Parolen im »Salle des Fantaisies Parisiennes« – so heißt einer der beiden Tagungssäle des Kongresses – der Gegenwart vorauseilen, in einem bleiben sie ihr über Gebühr verhaftet: Bei der künftigen Weltrepublik sind zwar, anders als bei der universalistischen Utopie der bürgerlichen Revolution, die Freiheits- und Gleichheitsrechte der Arbeiter mitgedacht, aber die der Dritten Welt bleiben weiterhin ausgeklammert. »Die sociale Umgestaltung«, sagt Lafargue, »vorbereitet durch die nationale und internationale Entwicklung und Organisation der Produktivkräfte wird die civilisirten Nationen Europas und Amerikas zusammenschmelzen zu einem einzigen Volke von freien Erzeugern und Besitzern der aus gemeinsamer Arbeit entsprungenen Reichthümer.«71 Von der Selbstbestimmung der Kolonialvölker, die zur selben Zeit auf den Champs de Mars als Neuerwerbungen der Grande Nation vorgezeigt werden, ist auf dem Kongress noch nicht die Rede. Das Sein der Arbeiterbewegung bestimmt ihr Bewusstsein. »Im internationalen Maßstab«, schreibt Eric Hobsbawm in »Das imperiale Zeitalter«, »blieb der Sozialismus vor 1914 weitgehend eine Bewegung von Europäern und weißen Auswanderern oder deren Nachkommen. Der Kolonialismus war für ihre Interessen von untergeordneter Bedeutung.« Ein Cloots, welcher der Versammlung dieses Manko ad oculos demonstriert, findet sich 1889 nicht. (S. 96)
Dazu ein letzter Rückblick, gewissermaßen in die Vor-Vergangenheit einer künftigen humanen Weltgesellschaft:
Am 19. Juni [1790] steht die Nationalversammlung im Zeichen des Föderationsfests: Sie empfängt Nationalgardisten aus Tours und Chartres. Sie beschließt, den Bastillekämpfern auf dem Marsfeld einen Ehrenplatz einzuräumen. Danach betritt eine auffällig gekleidete Männergruppe den Saal und tritt vor die Barre des Präsidenten. Es sind 36 Personen in den Trachten europäischer, asiatischer und amerikanischer Völker, angeführt von einem in Paris lebenden Deutschen, Jean-Baptiste de Cloots. Dieser bekommt das Wort erteilt und ruft die Versammlung auf, das Föderationsfest nicht nur als Fest der Franzosen, sondern als »Fest der ganzen Menschheit« zu begehen: »Die Trompete, die die Erhebung eines großen Volkes verkündet, hat ihr Echo in allen vier Teilen der Welt gefunden, und die Freudenrufe eines Chors von 25 Millionen freier Menschen haben die Völker aufgeweckt, die in einer langen Sklaverei begraben lagen.«78 Cloots beantragt, ihn und seine Begleiter zur Marsfeldfeier einzuladen. […] Die Abgeordneten der Nationalversammlung stimmen dem Cloots‘schen Antrag per Akklamation zu. […] Zur Verärgerung der Botschafter der europäischen Monarchien – die Cloots in seiner Ansprache als »Gesandte der Tyrannen« bezeichnet hat, die das »erhabene Fest nicht ehren« könnten81 – nimmt die Cloots‘sche Truppe auf dem Marsfeld dann tatsächlich in der Nähe des diplomatischen Korps Platz.
Die Französische Revolution hatte ja ein starkes kosmopolitisches Moment. Seit der Erklärung der Menschenrechte, die ja nicht »Erklärung der Franzosenrechte« hieß, war dies explizit, allerdings ohne dass daraus eine praktisch-politische Programmatik entwickelt worden wäre. Cloots’ Vorstoß berührt eine Saite, die schon gespannt war, aber noch nicht gespielt wurde. Deshalb die Beifallsstürme der Parlamentarier, die seine Rede am 19. Juni immer wieder unterbrechen; deshalb die überwiegend positive Reaktion in der bürgerlichen Presse – im »Courrier«, in der »Chronique de Paris«, im »Moniteur universelle« und in den »Révolutions de France et de Brabant«, wo Camille Desmoulins ein Jahr später schreibt: »Hoffen wir, dass es die Unterteilung in Königreiche bald nicht mehr gibt, sondern nur noch ein einziges Volk, das man das Menschengeschlecht nennen wird.«
Konservative Blätter verlachen Cloots, wie konservative Historiker noch 200 Jahre danach, als Possenspieler, aber die Nationalversammlung sieht das etwas anders. Sie lässt seinen Appell in 500.000 Exemplaren drucken.90 Cloots nennt sich nun, an den eingeführten Begriff »orateur du peuple« anspielend, »l’orateur du genre humain«, und er legt nach: 1792 veröffentlicht er »La République universelle ou Adresse au Tyrannicides«, 1793 die »Bases constitutionelles du genre humain«, in denen eine Weltrepublik und gleich auch deren Verfassung vorgeschlagen werden. (S. 34f.)
Zum Schluss noch der Hinweis auf einige weitere wichtige Veröffentlichungen von Warneken:
1974: Der Flipperautomat. Ein Versuch über Zerstreuungskultur, in: Jürgen Alberts u.a.: Segmente der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt a. M. 1974, S. 66-129.
1979: Literarische Produktion. Grundzüge einer materialistischen Theorie der Kunstliteratur, Frankfurt a. M. 1979.
(Hrsg.) 1991: Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt a. M. und New York 1991. Campus
2006: Die Ethnographie popularer Kulturen. Eine Einführung, Wien, Köln und Weimar 2006.
2009: Schubart. Der unbürgerliche Bürger, Frankfurt a. M. 2009.
2010: Populare Kultur. Gehen – Protestieren – Erzählen – Imaginieren, Herausgegeben von Thomas Fliege, Silke Göttsch-Elten, Kaspar Maase, Ralph Winkle. Mit einer Nachbemerkung von Stefan Beck, Köln und andere 2010.