Aus gegebenem Anlass, vor Wein achten!

Geben ist seliger denn Nehmen!“ (Apg. 20, 35), „Seligpreisungen“ (Matth. 5) und Lyrikbettler-vor-bank-20-9-16_2302

 

Die paradox Gewohntes umstülpenden Seligpreisungen aus der Bergpredigt verwendet W. Kienzl in seiner Oper Der Evangelimann, Jahrzehnte lang ein Welterfolg:
Wilhelm Kienzl (1857-1941), Libretto und Musik, UA 4.5.1895 in Berlin.

Das Werk ist weit entfernt von der damaligen etwa gleichzeitigen Moderne und dem „fin de siècle“, in dem der Untergang der hochbürgerlich-vormonopolistischen Welt mit dem Untergang der Welt verwechselt wurde. Etwas näher steht Kienzl veristisch-naturalistischen Strömungen zwischen Leoncavallo, Mascagni und Gustave Charpentiers Louise (1907).

„Mit Der Evangelimann, dessen Handlung auf einem historischen Kriminalfall im Unterschichten-Milieu fußt, und Der Kuhreigen, die er beide als „Musikalische Schauspiele“ bezeichnete, gelang es ihm, einen volkstümlich-österreichischen Typ der zeitgenössischen Oper auszuprägen. (Der Evangelimann blieb bis in die 1970er Jahre eines der populärsten Stücke der Opernliteratur.) K. setzte diesen Weg dann mit Das Testament (1916), dessen Text in steirischem Dialekt steht, und dem an Wiener Volksstücken orientierten Hans Kipfel (1926) fort.“
http://www.akm.at (2/2015), 2016/04/19, Abruf 22.12.16.

Die Handlung unter anderem bei: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Evangelimann, 3.11.16;
https://en.wikipedia.org/wiki/Der_Evangelimann, 12.7.16.
Der vollständige Libretto-Text in einer schlampigen, aber im Prinzip entzifferbaren Digitalisierung unter https://archive.org/stream/derevangelimannm1896kien/derevangelimannm1896kien_djvu.txt; Reproduktion des Libretto unter https://archive.org/details/derevangelimannm1896kien.
Der Klavierauszug bei IMSLP (International Music Score Library Project).
Zahlreiche Aufnahmen gerade der Seligpreisungen auf „youtube“.

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Die ingeniöse Melodie erklärt etwas von dem dauerhaften Ruhm dieser Szene. 1. Kienzl bezieht die absteigende Quarte auf „(Ver-)folgung als logisch-harmonische Konseqenz zurück auf die aufsteigende Quarte a‘-d“ von „(Se-)lig sind“ und bildet so auch musikalisch eine Kausalität nach. 2. Auch die Quarte fis‘-h‘ auf „Um der“ (Gerechtigkeit) kann als Bekräftigung dieser Kausalität gelten. 3. Kienzl tut dann des Guten fast zuviel, wenn er das durch ein dreimaliges Quart-Pendel a‘-d“ in der dritten Melodiephrase nicht weniger als dreimal wiederholt, und überdies nochmals in der vierten, abschließenden Melodiephrase. Jedenfalls dürften es dann auch die Armen aller Art und die in der Szene direkt angesprochenen Kinder begriffen haben. 4. Umso strahlender wird durch den melodischen Gipfelton fis“ die „(Ge-)recht-(igkeit)“ überhöht. 5. Das Ganze hat nur den kleinen Pferdefuß, dass die irdische Gerechtigkeit erst im Himmel vollstreckt wird – das „(Himmel-)reich“ erhält den gleich Spitzenton fis“.

Kienzl folgt hier den Formulierungen aus dem Evangelium nach Matthäus, Kapitel 5 (Neues Testament).

Lyrik I

3 Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. (Psalm 51.19) (Jesaja 57.15)
4 Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. (Psalm 126.5) (Offenbarung 7.17)
5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. (Matthäus 11.29) (Psalm 37.11)
6 Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. (Lukas 18.9) (Johannes 6.35)
7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. (Matthäus 25.35) (Jakobus 2.13)
8 Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. (Psalm 24.3-5) (Psalm 51.12) (1. Johannes 3.2) (1. Johannes 1.3)
9 Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. (Hebräer 12.14)
10 Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr. (1. Petrus 3.14)
11 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, so sie daran lügen. (Matthäus 10.22) (Apostelgeschichte 5.41) (1. Petrus 4.14) 12 Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel wohl belohnt werden.

Luther 1912 mit Apokryphen

http://www.bibel-online.net/buch/luther_1912_apokr/matthaeus/5/#1; vgl. die Feldrede im Lukas-Evangelium Lk 6,20-21. Hervorhebungen H.-W.H.

Ein aufschlußreicher Kommentar von Raphael Döhn verweist auf „Gerechtigkeit“ als Schlüsselbegriff und weist nach, dass diese Sprüche in poetischer Sprache samt sakral konnotierter Zahlensemantik – 12 oder Mehrfache von 12 – notiert sind.

In Mt 5,3-10 lassen sich zwei Strophen a 4 Verse (v3-6 und v7-10) erkennen. Vers 3 und 10 enden mit dem gleichen Nachsatz: hóti auton estin he basileía ton ouranon („denn ihrer ist das Himmelreich“). Sie bestehen aus jeweils zwölf Worten und rahmen somit die zwei Strophen ein. Ihr Nachsatz ist jeweils im Prasens formuliert. In den Nachsatzen in v4-9 hingegen taucht jeweils ein Verb im Futur auf.

In den Versen der ersten Strophe (v3-6) beginnen die selig Gepriesenen jeweils mit einem Pi: ptochoí, penthoúntes, praeís, peinontes (vgl. Luz, 2002, 269). Des Weiteren haben beide Strophen in etwa bzw. genau die gleiche Lange: Jeweils 36 Worte pro Strophe. Jedoch bestehen einige textkritische Unsicherheiten zur genauen Wortzahl (vgl. Wucherpfennig, 2009, 25; Luz, 2002, 269).

In den letzen Versen einer jeden Strophe taucht das matthaische Schlusselwort dikaiosýne („Gerechtigkeit“) auf (vgl. 5,6.10).“

Raphael Döhn: Die Seligpreisungen, https://www.bibelwissenschaft.de/bibelkommentar/beitraege-im-obk/detailansicht/ch/f7198f361b968b679fa984ba87844f63/?tx_gbbibelkommentar_main%5Bcomment%5D=80&tx_gbbibelkommentar_main%5Baction%5D=show&tx_gbbibelkommentar_main%5Bcontroller%5D=Comment, 25.5.2012, Abruf 31.10.12.

Eine spezielle, nicht direkt aus der „Bergpredigt“ stammende Seligpreisung ist mit Paulus verknüpft und überliefert:

Geben ist seliger denn nehmen (Apostelgeschichte 20, 35)

Das geht über den für die Evolution, speziell die der Hominiden, wichtigen reziproken Altruismus sogar noch hinaus. Die Asymmetrie gleicht der der „Seligpreisungen“.

Zum Kontext: Es handelt sich um das Ende der Abschiedsrede des Paulus an die Ältesten von Ephesus.

Übersetzung Version 1912: 33 Ich habe euer keines Silber noch Gold noch Kleid begehrt. 34 Denn ihr wisset selber, daß mir diese Hände zu meiner Notdurft und derer, die mit mir gewesen sind, gedient haben. (Apostelgeschichte 18.3) (1. Korinther 4.12) (1. Thessalonicher 2.9)

35 Ich habe es euch alles gezeigt, daß man also arbeiten müsse und die Schwachen aufnehmen und gedenken an das Wort des HERRN Jesus, daß er gesagt hat: „Geben ist seliger denn Nehmen!“

http://www.bibel-online.net/buch/luther_1912/apostelgeschichte/20/ Hervorhebungen H.-W.H.

Interessanterweise betont das Paulus-Zitat, dass er sich seinen Lebensunterhalt selbst mit seiner Hände Arbeit verschafft habe.

Das ist im folgenden Prosagedicht etwas anders konfiguriert. Die Arbeit für sich und für andere ist dissoziiert.

Lyrik II

Arbeitgebers Abendgebet

Gebet

mir bitte

mehr

unbezahlte

Mehrarbeit,

liebe Arbeitnehmer!

Ich danke euch für eure Gaben.

Der Journalist und Kabarettist Martin Buchholz griff diesen Spruch auf in einem Kabarett-Song der 1970er, den ich nicht mehr genauer datieren kann, und gab ihm eine zeit- und gesellschaftskritsiche Pointe:

„Denn Geben ist seliger als Nehmen / Die Arbeitnehmer sollten sich was schämen.“

heartfield_hitler_salute

Front page of the Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), 16.10.1932, with a photomontage by John Heartfield showing Adolf Hitler taking money from an exemplary industrialist. Title: „Der Sinn des Hitlergrusses: Kleiner Mann bittet um grosse Gaben. Motto: Millonen Stehen Hinter Mir!“ (The Meaning of the Hitler Salute: Little man asks for big gifts. Motto: Millions Stand Behind Me!)

https://en.wikipedia.org/wiki/File:Heartfield_Hitler_Salute.jpg, Abruf 22.12.16.

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